Der bekannte Cellist und Dirigent ist regelmäßiger Gast des Usedomer Musikfestivals: Bei der 28. Auflage vom 19. September bis 9. Oktober ist der Litauer als Botschafter seines Landes mit sieben Konzerten vertreten.
Heringsdorf Er zählt zur Weltelite der Cellisten, ist Dirigent, einer der einflussreichsten Musikpädagogen Europas und Botschafter seines Landes beim 28. Usedomer Musikfestival: der Litauer David Geringas. Im Interview verrät er, warum er sein Heimatland mit Ende 20 verlassen hat, sein Herz heute für den Norden Deutschlands schlägt, Musik eigentlich gar nicht existiert und er auch mit 75 Jahren süchtig danach ist, etwas zu lernen.
Sie wurden in Vilnius, der heutigen Hauptstadt von Litauen, geboren. Zu Hause lernten Sie Jiddisch, im Kindergarten Russisch, auf der Schule Litauisch und Deutsch. Ihre Meisterkurse geben Sie auf Italienisch, Russisch oder Englisch. Was bedeutet es für Sie, Weltbürger zu sein?
Der Begriff ist mir zu pathetisch. Ich bin ich. Man könnte besser sagen, ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, das trifft es vielleicht eher.
Mit 17 Jahren haben Sie am Moskauer Konservatorium Cello bei dem weltbekannten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch studiert. Sie haben gesagt: „Sein Unterrichtsfach hieß: die ganze Welt“.
Ja, er hat nicht die Zeile unterrichtet, die wir als Streicher zu spielen haben, sondern die ganze Bandbreite der Musik. Musik war für ihn ein Abdruck der ganzen Welt. Rostropowitsch war wie ein Komet, der die Schüler hinter sich herzieht. Als ich studierte, war er auf einem unglaublichen Höhenflug. Er hat uns mitgenommen, mit ganzem Herzen und weit ausgespannten Flügeln.
Zur Person
David Geringas wurde am 29. Juli 1946 in Vilnius (Litauen) geboren. 1963 kam er zum prägenden Lehrer seines Lebens: zu Mstislaw Rostropowitsch nach Moskau. 1970 gewann David Geringas die Goldmedaille beim Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau. Drei Jahre zuvor hatte er die Pianistin Tatjana Schatz geheiratet und mit ihr seitdem im Duo konzertiert. Beide waren involviert in das Engagement von Rostropowitsch für den Dissidenten Alexander Solschenizyn. Nachdem Rostropowitsch 1974 das Land verlassen hatte, emigrierte 1975 auch das Ehepaar Geringas gen Westen.
Ein Jahr später wurde David Geringas Erster Solocellist des damaligen NDR Sinfonieorchester in Hamburg und der jüngste Hochschulprofessor Deutschlands. Heute kann er auf eine jahrzehntelange Karriere zurückblicken. Er arbeitete als Cellist und als Dirigent mit vielen namhaften Künstlern zusammen. Seit Jahren kommt er regelmäßig zum Usedomer Musikfestival, um sein Können zu zeigen und weiterzugeben.
Rostropowitsch hat sich politisch für den Regimekritiker Alexander Solschenizyn eingesetzt und infolge von sowjetischen Schikanen das Land verlassen. Sie sind ebenfalls 1975 mit Frau und Sohn in den Westen emigriert. Warum haben Sie sich zu dem Schritt entschlossen?
Mit Mstislaw Rostropowitsch habe ich meine Jugendjahre von 17 bis 27 verbracht. Mit ihm bin ich meinen musikalischen Weg gegangen. Abgesehen von meiner Familie war er mein kompletter Lebensinhalt. Als er ausreiste, war für uns klar, dass wir ihm folgen.
Wie schwer war es, die Heimat zurückzulassen?
Für uns war klar, dass wir gehen müssen. Wir wollten unseren Platz im Leben und in der Musik finden. Und wir sind sehr dankbar, dass wir den in Deutschland gefunden haben. Als wir Litauen 1975 verlassen haben und nach Deutschland kamen, war das wie eine Wiedergeburt.
Was bedeutet Ihnen heute Ihre Heimat? Und warum verdient es das Land mit seiner Kultur und seiner Musik, beim Musikfestival gewürdigt zu werden?
Jedes Land verdient es, gewürdigt zu werden, weil wir viel zu wenig voneinander wissen. Ich bin sehr stark mit Litauen und mit den litauischen Komponisten verbunden. Zum zweiten Mal, seit ich dabei bin, steht Litauen im Mittelpunkt des Usedomer Musikfestivals. Das letzte Mal habe ich Werke von 15 litauischen Komponisten gespielt. Das ist eine fantastische Chance. Wegen der Corona-Regeln sind es in diesem Jahr weniger Konzerte, trotzdem freue ich mich, dass litauische Musiker dabei sind und über mein Heimatland gesprochen wird. Und dass ich mit sieben Konzerten so viel dazu beitragen darf.
1976 wurden Sie Erster Solocellist des damaligen NDR Sinfonieorchester in Hamburg und Sie sind seit rund 20 Jahren regelmäßig beim Usedomer Musikfestival zu Gast. Ist der Norden inzwischen ein Stück Heimat geworden?
Ja. Wir fühlen uns in Hamburg zu Hause, so, als wären wir dort geboren. Usedom fühlt sich an wie eine zweite musikalische Heimat. Wir sind in das Musikfestival reingewachsen. Als wir zum ersten Mal nach Usedom gekommen sind, war Schloss Stolpe verlassen. Unser erstes Festival hat dazu beigetragen, dass man überlegt hat, dort zu investieren. Jetzt ist es eine Perle und wir sind sehr stolz darauf.
Sie geben in diesem Jahr sieben Konzerte. Welche weiteren musikalischen Schwerpunkte setzen Sie?
Im Fokus stehen natürlich die litauischen Komponisten, weil wir den Besuchern das Land nahebringen wollen. Das sind in erster Linie moderne Stücke, die mit klassischen Werken kombiniert werden. Beethoven wäre ja im vergangenen Jahr 250 Jahre alt geworden. Seinen Geburtstag wollen wir dieses Jahr nachholen. Daher werden auch zwei große Kammermusikstücke von Beethoven gespielt.
Sie waren der jüngste Hochschulprofessor Deutschlands und haben fast alle deutschen Spitzenorchester mit Solocellisten aus ihren Klassen an den Musikhochschulen in Lübeck und Berlin versorgt.
Ja, ich habe in Deutschland 15 ehemalige Studierende, die heute eine Professur haben. Das ist schon eine schöne Sache. Sie führen meine Lehre, die ich ja schon von meinem Lehrer habe, weiter.
Von ihrem Lehrer haben Sie nicht nur die Noten gelernt, sondern auch die Begeisterung für die Musik. Geben Sie die auch an Ihre Schüler weiter?
Ja, Musik ist mehr als Noten. Noten klingen nicht. Es sind nur Zeichen, die mit Tinte auf Papier geschrieben sind. Musik existiert nicht. Sie ist nur eine Erinnerung an Klänge, die wir mal gehört haben. Es gibt Musik in dem Moment, in dem wir anfangen zu spielen, wenn wir aufhören, hört auch die Musik auf. Es ist jedes Mal so, als würde das Stück zum ersten und einzigen Mal aufgeführt. Man muss als Künstler auf die Bühne gehen und versuchen, das Stück zum Leben zu erwecken. Es so lebendig zu machen, dass die Erinnerung an das Stück lange bleibt, das nennt man Musik.
Sie haben in einem Interview gesagt: „Lernen macht glücklich und süchtig“. Was würden Sie mit 75 Jahren gern noch lernen?
Der deutsche Dirigent Kurt Sanderling hat mit 96 Jahren die Partitur der 6. Sinfonie von Tschaikovski gelesen und gesagt, er hätte neue Sachen entdeckt, die er noch nicht kannte. Man kann also immer etwas lernen, selbst wenn man ein Kurt Sanderling ist und das Stück schon 1000-mal dirigiert hat. Genau das macht uns neugierig auf jeden Tag und auf das Leben.
Höhepunkte des Usedomer Musikfestivals
- Sonntag, 19. September, 20 Uhr, Eröffnungskonzert mit David Geringas und dem Kammerorchester Klaipėda Kaiserbädersaal, Hotel Kaiserhof, Seebad Heringsdorf
- Donnerstag, 23. September, 10 bis 17 Uhr,Musikalische Inselrundfahrt mit Raimondas Sviackevicius (Akkordeon); Benjamin Jäger (Orgel), Treffpunkt: Ev. Kirche, Seebad Ahlbeck, Stationen: Seebad Ahlbeck, Liepe und Lieper Winkel, Wasserschloss Mellenthin, Usedom Stadt
- Sonnabend, 25. September, 15 Uhr, Konzert: Lieder & Landschaften mit Martynas Levickis (Akkordeon) Evangelische Kirche Liepe
- Sonnabend, 25. September, 19.30 Uhr, Corinna Harfouch liest litauische Weltliteratur Ev. Kirche St. Marien, Stadt Usedom
- Mittwoch, 29. September, 19.30 Uhr, Litauische Landschaften – Kino-Extra, Film und Podiumsgespräch mit Volker Koepp und Jan Brachmann Kaiserbädersaal, Hotel Kaiserhof, Seebad Heringsdorf
- Freitag, 1. Oktober, 19.30 Uhr, Konzert: Geringas und Freunde mit David Geringas (Violoncello), Dylan Blackmore (Violine), Hartmut Rohde (Viola), Vytautas Sondeckis (Violoncello)Miejski Dom Kultury, Świnoujście (Swinemünde)
- Samstag, 2. Oktober, 20 Uhr,Jan Garbarek live (Saxophon, Synthesizer, Flöten), Rainer Brüninghaus (Klavier), Trilok Gurtu (Schlagzeug), Yuri Daniel (Bass)UBB Lokhalle, Seebad Ahlbeck
- Dienstag, 5. Oktober, 19.30 Uhr, Im Licht des Himmels: Konzert mit dem New Ideas Chamber Orchestra; Gediminas Gelgotas (Leitung und Komponist); David Geringas (Violoncello)Ev. Kirche St. Petri, Wolgast
- Mittwoch, 6. Oktober, 19.30 Uhr, Gipfelstürmer des litauischen Jazz: Egidijus Buožis (Klavier)Strandhotel Seerose, Kölpinsee
- Sonnabend, 9. Oktober, 20 Uhr,Abschlusskonzert, David Geringas (Violoncello), NDR Elbphilharmonie Orchester, Stanislav Kochanovsky (Dirigent)Kraftwerk Peenemünde
Karten und Infosunter www.usedomer-musikfestival.de
Sie haben Ihre Liebe für Musik an Ihren Sohn Alexander weitergegeben, der als Musikproduzent Songs für die No Angels und Howard Carpendale geschrieben hat und seit 2011 erfolgreich Kinomusik in den USA produziert. Machen Sie auch gemeinsam Musik?
Ja. Er hat die Musik zu dem Film „Arlo the Alligator Boy“ komponiert, die im vergangenen September von mir und dem Deutschen Filmorchester Babelsberg eingespielt wurde.
Sie sind in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden. Wie fällt Ihre Bilanz aus – musikalisch und privat?
Ich schreibe gerade ein Buch. In dem Zusammenhang habe ich meine Diskografie zusammengesucht, es sind immerhin 120 Aufnahmen. Man könnte auch zählen, in wie vielen Städten ich wie viele Stücke gespielt habe. Aber diese Mathematik habe ich noch nicht angefangen. Das soll jemand anderes tun.
Und privat?
Meine Frau und ich sind jetzt 54 Jahre verheiratet. Wir haben in Deutschland unseren Platz gefunden, dafür sind wir dankbar.
Und was wünschen Sie sich für das kommende Lebensjahr?
Unser Sohn lebt mittlerweile in Los Angeles, das ist sehr weit entfernt. Wir hoffen, dass wir ihn und seine Familie zu Weihnachten endlich wieder besuchen können – das war zwei Jahre lang wegen der Corona-Bestimmungen leider nicht möglich.