Usedom hat eine fünfte Jahreszeit, seit 1994 schon. Die sich zwischen dem Festland einkuschelnde Ostseeinsel avanciert seither immer im September und Oktober auch zum Klassikhotspot. Und was man durch Budget- und Ortsbegrenzungen nicht leisten kann, das macht das Usedomer Musikfestival man durch Originalität und Entdeckerfreude wett. Schließlich versteht man sich – auch in Angrenzung von den angrenzenden Klassikjahrmärkten Schleswig Holstein Musik Festival und Musikfestival Mecklenburg-Vorpommern – stolz als „Podium der Ostsee“: Hier geht man jedes Jahr in wechselnder Reihenfolge im Namen eines der zehn Anrainerstaaten (Norwegen wird auch wegen seinen alten Hansebeziehungen großzügig dazugerechnet) auf nationale Entdeckungsreise.
So kommen in die Kaiserbäder Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck, in das schön sanierte Schloss Stolpe, die Wasserburg Mellenthin oder in die urigen Dorfkirchen etwa in der verwunschen-ländlichen Binnenlandschaft im Lieper Winkel durchaus die Kenner, die Neues hören wollen. Und sie werden nicht enttäuscht: Dramaturgisch clever zusammengestellt sind die Programme, arrivierte Künstler, Star und Newcomer mischen sich harmonisch.
Oftmals sind die Darbietungen auch in touristische Programme als Landpartien eingebunden, bei denen Wisssenswertes über Land und Leute, gern auch in direktem Bezug zum Dargebotenen, vermittelt wird. Die besonders fruchtbare zwischenstaatliche Kulturarbeit des Festivals wurde 2016 mit dem Gütesiegel der EU für „künstlerisches und gesellschaftliches Engagement mit internationaler und globaler Perspektive“ ausgezeichnet.
Der Hamburger Kulturmanager Thomas Hummel, der natürlich auch auf Usedom ein Domizil hat, prägt das erfolgreiche, auf eine Hoteliers- und Anwohnerinitiative zurückgehende Festival, für das schnell auch Kurt Masur eine wichtige Figur wurde, seit Anfang an; inzwischen ist man ganzjährig ausgelastet, denn sein kleines Team stemmt zusätzlich die Internationalen Tage jüdischer Musik (dieses Jahr vom 12.-18 November) und die gerne auch musikalisch unterlegten Usedomer Literaturtage, die immer im Frühjahr abgehalten werden.
Zudem ist man das organisatorische Herz des Baltic Sea Phiharmonic, das unter seinem charismatischen Chef Kristjan Järvi als bedeutende Jugendbegegnungsmaßnahme den Festivalgedanke auf seinen Touren über Meer und Wellen trägt. Das spielte auch dieses Jahr vorab im ehemaligen Kraftwerk Peenemünde. Das war einst die berühmt-berüchtigte, von Zwangsarbeitern hochgezogene Heeresversuchsanstalt Peenemünde (HVA) und die Erprobungsstelle der Luftwaffe „Peenemünde-West“ für dort zwischen 1936 und 1945 entwickelten Raketen und anderen Flugkörper. Heute klärt dort das Historisch-Technische Museum die Raketenfans über die düstere Geschichte des Ortes auf. Anlässlich von dessen 30-jährigem Jubiläum spielte das Orchester Schwanenmusiken von Pärt, Sibelius und Tschaikowsky. Und die eindrückliche Dirigentengalerie zeigt, wie sehr dieser düstere Ort von gestern inzwischen auch zu einem der erinnernden Kultur von heute geworden ist.
Das Abschlusskonzert des diesjährigen Festivals, wie so oft mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, erklang ebenfalls in dieser Halle. Auch treue Sponsoren unterstützen Hummel, von Hotels bis zu Privatpersonen, die teilweise bis aus Bayern hierherkommend neben dem nach der Wende erworbenen Ferienhaus auch der lokalen Kultur etwas angedeihen lassen wollen. Sie sitzen dann mit an den allabendlichen Künstlertischen nach den Konzerten, können mit auf Tuchfühlung gehen, sind integrierte Festivalmitglieder.
Durch Initiativen wie das Usedomer Festival kehrt die Insel, die sich Deutschland zu einem geringen Prozentsatz mit Polen teilt, allmählich wieder dorthin, wo man früher einmal war: Zu einem geistvollen Ferienort, einst der gehobeneren Stände, heute für jeden zugänglich. Die alte Bädersubstanz wurde flächendeckend renoviert, Neubauten meist diskret dazwischengeschoben. In dem marketingclever angepriesenen „Kaiserbädern“ kann man 12 Kilometer lang an schönen Villen, Parks, Kureinrichtungen vorbeiflanieren und dann mit völlig neuer Perspektive an der Meerkante im Sand zurückmarschieren; immer die Seebrücken und Möwen links bzw. rechts liegen lassend. Natürlich sind die polnischen Nachbarorte Swinemünde und Wollin in die Programme eingebunden.
Maxim Gorki hat hier, im ersten bürgerlichen Seebad an der Ostsee, gekurt, später hat nach einer seiner Vorlagen Alexander Zemlinsky hier an einer Oper gearbeitet, die freilich nie über Fragmentarisches hinauswuchs; eben wurde sie erstmals in Prag gespielt. Im ehemaligen Gorki-Domizil ist heute das Festivalteam beheimatet. Engelbert Humperdinck hat sich in der Villa Meerstern erholt und komponiert, Arnold Schönberg hat hier am “Pierrot Lunaire” gearbeitet, Richard Strauss war mal da und sogar Johann Strauß, der angeblich hier die Inspiration für den Kaiserwalzer hatte. Aufgetreten ist er allerdings nicht. In diskreter Atomsphäre traf sich hier Reichskanzler Otto von Bismarck mit oft jüdischen Bankiers, später war Usedom bis zum zweiten Weltkrieg ein diskretes Stelldichein aus Politik und Hochfinanz, wenn auch zuletzt unter grausam anderen Vorzeichen.
Die DDR hat vieles verkommen lassen, im Werktätigenbad sollten sich jetzt die Arbeiter und Bauern erholen. Immerhin, in Zinnowitz einst Hochburg der Wismut AG, begannen am im stalinistischen Barockstil für die im Uranabbau Beschäftigten errichteten Kulturhaus die Schlagerkarrieren des aus Kuba importierten Roberto Blanco wie von DDR-Singurgestein Frank Schöbel. Heute wartet das ruinöse Gebäude auf seine Sanierung als Appartementhaus.
Das Usedomer Musikfestival 2021, es stand ganz im Zeichen Litauens, schon zum dritten Mal. Eröffnet wurde es von einem ständigen Gast, dem in Berlin lebenden Cellisten David Geringas, diesmal sogar Artist-in-Residence mit sieben Konzerten. Geringas ist dem Festival schon ewig und drei Tage verbinden, als Solist wie Dirigent und seit 15 Jahren als Leiter eines Meisterkurses in dem atmosphärischen, bald fertig sanierten Schloss Stolpe mit seinen bewegten Geschichte; vor allem von den letzten Jahren Eigentümerjahren bis nach dem zweiten Weltkrieg unter der bemerkenswerten Gräfin Freda von Schwerin weiß der Vorsitzende des Förderkreises anschaulich zu berichten.
Gleich zu Beginn gab es eine Uraufführung im alten Kaisersaal in Heringsdorf, bei der auch Ministerpräsidentin Manuela Schwesig vorbeischaute, auch das hat Tradition beim Usedomer Musikfestival, wo man stets konsequent in die Vergangenheit wie die Gegenwart des jeweiligen Gastlandes schaut. „Das Usedomer Musikfestival leistet damit einen großen Beitrag für das Zusammenwachsen hier in der unmittelbaren Grenzregion der Insel, aber vor allem auch, um die Verbindungen im Ostseeraum weiter auszubauen“, lobte Schwesig.
Und so spielte Geringas am Pult des volltönenden Kammerorchesters Klaipeda nicht nur die wacker sinfonische Beethoven-Motive mit litauischer Folklore verwebende „Hommage an Beethoven“ von Donatas Prusevicius, sondern auch das feinsinnig schweifende Doppelkonzert von Arvydas Malcys (mit Ingrida Rupaite an der Geige und Harmut Rohde an der Bratsche als kompetenten Interpreten) und den zunächst fremdartig synagogal tönende Orchesterlied-Zyklus „Aus dem vergessenen Buch“ vom jüngst verstorbenen Anatolijus Senderovas, den Rafailas Karpis mit zupackend hellem Tenor ideal vortrug.
Für Dvoraks „Waldesruhe“ nahm David Geringas auch selbst sein Cello in die Hand. Und hinterher sagte er: „Usedom hat eine Atmosphäre, die mich an meine litauische Heimat erinnert. Wir liegen schließlich am selben Meer.“
Fast 500 Besucher würde der Kaisersaal fassen, nur die Hälfe durfte coronabedingt kommen, und auch am Ende haben das diesjährige Festival nur 7000 statt der üblichen 14000 Besucher erleben können. Aber die, die kamen waren begeistert; und so hat man auch im zweiten Corona-Jahr der Pandemie trotzig die Kulturstirn geboten. Ob beim Auftakt des Ostsee-Musikforum in der heiligen Kirche Stolpe, den Kursleiter David Geringas selbst mit dem Trio FortVio gestaltete, oder beim Konzert des mitreißenden Pianisten Lukas Geniusas im Saal des schicken Steigenberger Grandhotel, immer war zu hören, wie vital, um Verständnis bemüht, ohne jede Elfenbeintum-Abgewandheit sich die litauischen Komponisten für ihr Publikum schreiben, und trotzdem waren höchst individuelle Stimmen zu erleben.
200 Musiker aus Litauen, Deutschland, und anderen Ländern des Ostseeraums und der Welt waren dabei. Ob mit Akkordeon oder an der Orgel, mit Saxophon, oder konsequent popig, in einer eigens vorbereiteten, musikbegleiteten Lesung von Corinna Harfouch aus dem Werk des die Klassik liebenden Antanas Skema, mit Sopranstar Ausryne Stundite, jazzig oder beim Streichquartettabend, es wurde eine bunte Vielfalt litauischer Klänge von der Barockzeit bis in die Gegenwart geboten. Der litauische Klarinettist Zilvinas Brazauskas (30) erhält den mit 5000 Euro dotierten Usedomer Musikpreis.
Und auch Starsolist Jan Gabarek als Norweger hatte seinen Platz – mit seinem nachgeholten Konzert aus dem letzten Jahr und dem damaligen Länderschwerpunkt. Gute Luft, gute Musik, schöne Landschaften und Konzertorte – das Usedomer Musikfestival hat sich längst seinen ganz eigenen Platz auf der Landkarte der Festspiele erobert. Und leuchtet noch heller als die Insel, die mit 2000 Sonnenstunden im Jahr bereits etwa doppelt so viele wie im bundesdeutschen Durchschnitt zu bieten hat.