Er schrieb eine lebensgierige Musik voller Alltagsspuren, Kratzer, Narben und Flecken, mit der sich Litauen als Kulturnation auch in bleierner Zeit behauptete: Zum Tod des Komponisten, Politikers und Diplomaten Faustas Latėnas.
Starre und Verzweiflung kann man hören am Anfang der Sonate für Violoncello und Klavier, die Faustas Latėnas 1978 in der Sozialistischen Sowjetrepublik Litauen schrieb. Der Cellist David Geringas hat sie zusammen mit der Pianistin Indrė Baikštytė vor vier Jahren auch dem deutschen Schallplattenmarkt zugänglich gemacht in seiner Anthologie „Sound of Lithuania“. Gegen die gleichförmigen Wiederholungen des Klaviers – geschäftige Apathie, inspiriert von der Minimal Music – stemmt sich das Cello mit wachsender Glut, Angst und Wut. Auch wer die Stagnation der späten Breschnew-Jahre, die „bleierne Zeit“, nicht persönlich miterlebt hat, kann die erdrückende Sinnleere hier immer noch spüren. Sie schlägt um in einen rüden, dreckigen Tango, der in einer Explosion aus Lärm kulminiert, um in einer langen Erschöpfung auszuklingen, bevor das ritualisierte Einerlei des Anfangs zurückkehrt und jede Vitalität ruhigstellt wie mit einer Spritze.
Kleine Völker, auch die Litauer gehören dazu, haben lange nur als Kulturnationen überlebt, weil ihnen große Imperien die Eigenstaatlichkeit verwehrten. Auch deshalb spielten Kunst, Literatur, Musik und Malerei in ihnen eine so vitale Rolle, auch deshalb mussten sie sich in diesen Ländern spürbar auf das Leben und die Welt einlassen. Faustas Latėnas liebte und schrieb solche Musik: eine unreine Musik voller Alltagsspuren, voller Kratzer, Narben und Flecken. Zu Beginn der achtziger Jahre brachte er seine „Musa memoria“ für Tonband heraus, auf der geistig gestörte Patienten Termini aus medizinischen Fachbüchern lasen. Für Latėnas war dieses Stück ein „Protest gegen die Absurdität des täglichen Lebens, gegen Pseudo-Ideen und ein Ausdruck angestauter persönlicher Frustration“.
Der Schüler des namhaften litauischen Komponisten Eduardas Balsys, von dem er die Liebe zum lateinamerikanischen Tanz, zu Tango, Habanera und Samba übernahm, hatte von 1979 bis 1990 die musikalische Leitung des Puppentheaters in der litauischen Hauptstadt Vilnius inne, wechselte dann ans Kleine Theater und schrieb sein ganzes Leben lang viel Theater- und Filmmusik. Doch wie viele Künstler des Baltikums stand auch Latėnas nach der wiedererlangten Unabhängigkeit seines Landes vor der Entscheidung, über das eigene Metier hinaus politische Verantwortung zu übernehmen. Zweimal wurde er stellvertretender Kulturminister; einmal Kulturattaché der Litauischen Botschaft in Russland, daneben war er offizieller Staatsberater Litauens für kulturelle Angelegenheiten.
Musikalisch faszinierte ihn der Einbruch der Banalität, auch der Ironie in die künstlerische Form und in den Fluss des Empfindens. Er selbst sprach von „musikalischem Hooliganismus“ und der besonderen Herausforderung, Menschen durch rein musikalische Mittel zum Lachen zu bringen, was ihm schon mit einer frühen Flötensonate gelungen war. Doch er verstand seine Kunst nicht als Zynismus. „Ich wollte, dass Musik warm sei und Gefühle auslöst“, sagte er einmal. Am Mittwoch ist der Komponist, Manager, Politiker und Diplomat Faustas Latėnas plötzlich gestorben. Er wurde 64 Jahre alt.
Quelle: FAZ.NET