Sie findet, was noch nie erklang, lässt ein Schlagzeug mit Kautschukkugeln weinen, ein Cello vor das Jüngste Gericht treten und uns hörend an ihren Gebeten teilnehmen. Jetzt wird die Komponistin Sofia Gubaidulina neunzig Jahre alt. Eine Hommage ihres Interpreten.
Gleich bei unserer ersten Begegnung – im Sommer 1986, beim Kammermusikfest in Lockenhaus – fasste ich eine tiefe Zuneigung zu Sofia Gubaidulina. Sicher, als Künstlerin verehrte ich sie. Aber als Mensch gewann sie mich sofort für sich: Sie war und sie ist in ihrer Art höchst originell, dabei zugleich warmherzig. Ihre Musik war mir schon vertraut. Ich hatte 1982, beim Bayerischen Rundfunk, die erste Schallplatte aufnehmen können, die überhaupt mit einem Werk von ihr im Westen erschien: „In Croce“ für Orgel und Violoncello, zusammen mit dem Organisten Edgar Krapp. Beim Verleger Hans W. Sikorski, mit dem ich bis zu dessen Tod befreundet war, hatte ich das Stück entdeckt. Nun aber stand plötzlich die Komponistin leibhaftig vor mir. Sie hatte zum ersten Mal aus der Sowjetunion ausreisen dürfen. Und in Moskau waren wir uns früher, vor meiner Emigration 1975, nie begegnet.
Gidon Kremer hatte in Lockenhaus organisiert, dass wir „Sieben Worte“ für Cello, Bajan – das in Russland so beliebte Knopfakkordeon – und Streicher spielen konnten. Sie selbst hat uns in den Proben ihre Musik vorgelebt, vorgesungen – gezeigt, wie die Klänge von einem Instrument ins andere übergehen, und interessiert zugehört, wie es sich umsetzen ließ. Wichtig war ihr zum einen die mathematisch durchdachte Konstruktion, in der auch Pausen eine genau definierte Bedeutung hatten. Sie arbeitet gern mit Reihen aus unteilbaren Primzahlen: 2, 3, 5, 7, 11, 13 und so weiter. So wichtig ihr diese Längen und Pausen waren, so frei war sie aber in den Stellen senza tempo und in der rhythmischen Gestaltung irregulärer Schlag-Unterteilungen, etwa Quintolen oder Septolen. Ihr lag viel daran, dass wir frei atmeten, so ernst ihr der Zusammenhang auch war. Genau das haben wir in der persönlichen Arbeit mit ihr erst gelernt.
Für sie war nicht wichtig, dass die Töne zusammen „anfangen“, sondern dass sie „erscheinen“, dass sie aus dem Nichts hervorkommen. Diesem Ton als einer Erscheinung aus dem Nichts galt ihr ganzes Staunen. Das ist der gravierende Unterschied zwischen Akustik und Musik: Der musikalische Ton als etwas Materielles muss verbunden bleiben mit dem Immateriellen. Sein „Erscheinen“ ist wichtiger als das perfekte, genau definierte „Anspielen“. Gubaidulina suchte nach Tönen, die man normalerweise gar nicht benutzt: Dieses spezielle Glissando auf dem Bajan, das Anschwellen der Tonhöhe, die nicht definierbaren Zwischentöne, die hat Gubaidulina eigentlich entdeckt.
Die „Sieben Worte“ für Cello, Bajan und Streicher sind ein großes Stück voller nie dagewesener Klänge, besonders am Schluss, wo Christus sich schon gen Himmel bewegt: Der Cellist spielt ein Tremolo hinterm Steg und zupft nur mit der linken Hand Flageoletts wie auf einer Harfe. Wer hat sich so etwas ausgedacht?! Darin steckt ein Dualismus von Rationalität und Irrationalität: Ein Tremolo hinter dem Steg kennt keine festen Tonhöhen mehr; was dort entsteht, ist irrational. Die Flageoletts aber stehen in A-Dur. Die Unterteilungen der Saite folgen mathematischen Proportionen; dabei entstehen nach rationalen Relationen Töne. Man muss genau die richtigen Stellen treffen. Diese Gleichzeitigkeit eines absolut irrationalen Bogentremolos hinter dem Steg und streng rationaler Hand-Flageoletts auf dem Griffbrett – das ist eine geniale Erfindung! Im Zusammenspiel mit dem Bajan hinterlassen sie einen starken Eindruck. Nach dieser gemeinsamen Arbeit in Lockenhaus habe ich die „Sieben Worte“ oft gespielt, stark angeregt in meiner interpretatorischen Fantasie.