Ab diesem Wochenende findet auf Deutschlands zweitgrößter Insel wie in jedem Herbst das Usedomer Musikfestival statt. Dieses Mal mit dem Schwerpunkt auf Künstlern und Musik aus Litauen – aber auch mit einigen nordeuropäischen Akzenten.
Anlässlich der 28. Ausgabe des Usedomer Musikfestivals ist diesmal ein relativ unbekanntes Land zu Gast. Und nur wirkliche Spezialisten dürften die Namen der berühmtesten Musiker und Komponisten Litauens auf Anhieb parat haben. Die diesjährige Veranstaltung wird daher für viele Besucher eine kleine musikalische Entdeckungsreise. Und viele werden am Ende dieser Reise verstehen, was der litauische Klarinettist Zilvinas Brazauskas meint, wenn er sagt: „Als ich anfing in Deutschland zu studieren, schämte ich mich ein wenig, dass ich aus einem Land kam, das nicht so bekannt ist. Aber jetzt sehe ich jedes Mal, wenn ich in Litauen bin, seine Schönheit, seine Einzigartigkeit, seine Besonderheit im Vergleich zu anderen Ländern.“ Der 30-Jährige ist in diesem Jahr Träger des Usedomer Musikpreises und wird anlässlich des Festkonzerts zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in der Kirche von Heringsdorf spielen. Sein Auftritt ist aber bei Weitem nicht das einzige Highlight der dreiwöchigen Veranstaltung. Aušrinė Stundytė, die im Programmheft des Festivals zu Recht als „Die Stimme Litauens“ angekündigt wird, gehört zu den besten dramatischen Sopranistinnen des Kontinents. Bei den Salzburger Festspielen brillierte sie 2020 und 2021 in der Titelrolle von Richard Strauss’ „Elektra“. Sowohl die „Neue Zürcher Zeitung“ als auch die „Süddeutsche Zeitung“ überschlugen sich in ihren Besprechungen mit Lobeshymnen für Stundytė. Und Jürgen Kesting, der Chefkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schwärmte über die Salzburger Aufführung: „Im Zentrum steht wieder die Sopranistin Aušrinė Stundytė, gebürtig aus dem neuen Wunderland des Singens: Litauen …“. In der Evangelischen Kirche von Ahlbeck wird der Rahmen etwas intimer als in Salzburg sein, wenn Stundytė dort am 8. Oktober „Sieben frühe Lieder“ von Alban Berg, „Vier letzte Lieder“ von Richard Strauss und Werke aus ihrer Heimat von Feliksas Romualdas Bajoras und Giedrius Kuprevičius zu Gehör bringt. Bereits am 28. September spielen im Nachbarort Bansin die jungen Musiker von Synaesthesis. Die meisten von ihnen sind Freunde und kennen sich aus der Schule. Wie gut sie sich kennen, das spürt man, wenn das Ensemble auf der Bühne steht und Werke zeitgenössischer Komponisten vorträgt.Weltstars und junge Ensembles
„Thematisch gibt es für uns keine Einschränkungen“, sagen die jungen Litauer in einem Youtube-Video. „Wenn wir fühlen, dass ein Stück musikalische Kraft hat, dann spielen wir es auch.“ Der wichtigste Gast des diesjährigen Festivals ist aber zweifelsohne der Cellist und Dirigent David Geringas. Der Kosmopolit, der seit 1975 in Deutschland lebt, hat unter anderem schon mit den Berliner und Wiener Philharmonikern, dem London Philharmonic Orchestra und dem Chicago Symphony Orchestra gespielt. Mit Fug und Recht darf man ihn als Weltstar bezeichnen. Und so wird das Usedomer Festival in diesem Jahr auch ein wenig zu einer Geringas-Würdigung. Anlässlich seines 75. Geburtstages tritt er gleich sechsmal an verschiedenen Orten auf der Insel auf, so beim Eröffnungskonzert am 19. September und beim Abschlusskonzert am 9. Oktober. Dann steht er zusammen mit dem NDR Elbphilharmonie-Orchester auf der Bühne, bei dem er vor vielen Jahren selbst als Solo-Cellist gespielt hat. Das Konzert findet im Kraftwerk der ehemaligen Heeresversuchsanstalt in Peenemünde statt, dem spektakulärsten Veranstaltungsort des Festivals.
Aber das Gastland nähert sich dem Publikum – und das ist Tradition beim Usedomer Musikfestival – nicht allein durch seine Musik. So liest beispielsweise am 25. September die Schauspielerin Corinna Harfouch, die ab 2022 im Berliner „Tatort“ ermitteln wird, in der Kirche von Usedom Auszüge aus dem Roman „Das weiße Leintuch“ von Antanas Škėma. Das 1958 erschienene Werk war 2017 vom Berliner Guggolz-Verlag in deutscher Übersetzung neu auf den Markt gebracht worden. Der 1910 geborene Škėma ist einer der größten Schriftsteller Litauens, sein Leben war eine Aneinanderreihung dramatischer Schicksalsschläge. Im Ersten Weltkrieg musste seine Familie aus Polen nach Südrussland fliehen, kaum dort sesshaft geworden, ging die Flucht während der Oktoberrevolution weiter in die Ukraine. 1921 kehrte die Familie zurück ins unabhängige Litauen, 1941 nahm Škėma am Juniaufstand gegen die sowjetische Okkupation teil und floh schließlich 1944 vor der erneuten sowjetischen Besatzung nach Deutschland. Dort lebte er nach Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere Jahre in Flüchtlingslagern in Thüringen und Bayern und emigrierte 1949 schließlich in die USA. Ein Jahrzehnt später kam Antanas Škėma bei einem Autounfall in Pennsylvania ums Leben. Sein ganzes Schreiben ist von Erlebtem, von Durchlebtem geprägt. Die Aussichtslosigkeit menschlicher Existenz ist das Thema seiner Arbeit. Sein einziger Roman, „Das weiße Leintuch“, aus dem Corinna Harfouch in Usedom lesen wird, legt Zeugnis ab über Škėmas Zeit in Amerika.
Harfouch, unter anderem mit dem Bayerischen und dem Deutschen Filmpreis, sowie der Goldenen Kamera ausgezeichnet, sagt über Škėmas Roman: „Dieses Buch lese ich und habe dabei immer einen leisen Schmerz im Herzen.“ Nicht zum ersten Mal begleitet die japanische Pianistin Hideyo Harada eine Lesung von Corinna Harfouch. Diesmal spielt die Schubert-Spezialistin auch aus Werken von Bach, Mozart, Chopin, Čiurlionis, Bartók und Strawinsky.
Literatur, Filme und eine Inselrundfahrt
Um „Litauische Landschaften“ geht es hingegen am 29. September im Kaisersaal in Heringsdorf. Dort werden zwei Filme des Dokumentarfilmers Volker Koepp gezeigt. Nur ein paar Tage später liest Frank Arnold, der als Sprecher vieler Hörbücher bekannt ist, in Zinnowitz aus Hermann Sudermanns 1917 erschienenem Roman „Die Reise nach Tilsit“. Umrahmt wird die Lesung von romantischer Klaviermusik aus Litauen. Ein äußerst vielfältiges Programm mit Konzerten, Lesungen und Filmabenden an ganz unterschiedlichen Aufführungsorten – von der kleinen Kirche bis zum Kraftwerk der ehemaligen Heeresversuchsanstalt in Peenemünde – das ist das Markenzeichen des Usedomer Musikfestivals, zu dem auch eine musikalische Inselrundfahrt gehört.
Das gesamte Programm findet man auf der Seite des Usedomer Musikfestivals: www.usedomer-musikfestival.de