Es muss eine tolle Zeit gewesen sein, damals in den 60er Jahren am Moskauer Konservatorium. „Das Konservatortium war eine Insel des Geistes und der Musik“, erinnert sich David Geringas noch immer voller Begeisterung.
Klar, das Ganze fand in der Sowjetunion statt, und es gab Fächer, die auch die jungen Musik-Talente kommunistisch schulen sollten. „Aber das haben wir mit einem lockeren Achselzucken hingenommen.“ Schließlich gab es dort Künstler wie Svjatoslav Richter, Heinrich Neuhaus, David Oistrach, Mstislav Rostropowitsch und viele mehr. Moskau vereinigte damals die Creme de la Creme der Klassik-Szene.
Und mitten drin der Cello-Student David Geringas und seine große Liebe Tatjana, die er 1967 heirate. Er hatte den unsterblichen Cellisten Mstislav Rostropowitsch als Lehrer und Mentor, und sie war eine der letzten Studentinnen in der Meisterklasse des 1888 geborenen Begründers der großen russischen Klavierschule, Heinrich Neuhaus.
Beim Gespräch im Wichelhovenhaus erinnern sich beide mit glänzenden Augen an die Zeit, als sie sich kennen gelernt haben. Mit vielen Anekdoten, die ihnen immer noch lebendig sind. Etwa darüber, was sie sich alles einfallen ließen, um die grandiosen und stets ausverkauften Konzerte der Professoren zu erleben. Oder über ihre berühmten Mitstudenten wie den Geiger Gidon Kremer oder das Cello-Wunder Jacqueline Du Pres, die eine ganz neue Freiheit in der Musik entdeckte und alle Studenten ansteckte. „Wir waren damals besessen von Musik“, sagt David Geringas rückblickend. Heute zählt er selbst zu den Größen der klassischen Musikwelt, sowohl als konzertierender Künstler am Cello oder Dirigenten-Pult als auch als renommierter Lehrer.
Seinen Durchbruch als Cello-Virtuose erlebte der heute 58-Jährige bereits als 24-jähriger Student, als er 1970 den Tschaikowsky-Wettbewerb, den wohl schwierigsten Cello-Wettbewerb überhaupt, gewann. 120 Konzerte hat er daraufhin jährlich im Ostblock absolviert. Doch das Leben in der Sowjetunion wurde zunehmend unerträglich. Als 1974 Rostropowitsch das Land verließ, hielt auch die junge Familie Geringas nichts mehr im Osten. Ein Jahr darauf siedelte sie mit ihrem vierjährigen Sohn Alexander nach Berlin über, wo sie sofort einen neuen Mentor fanden. Herbert von Karajan verschaffte ihnen ein Stipendium an seiner Berliner Stiftung.
Obwohl David Geringas schon auf große Erfolge zurückblicken konnte, musste die Familie in gewisser Weise wieder bei Null anfangen. Doch der Aufstieg war rasant. Rostropowitsch ermöglichte dem inzwischen 30-Jährigen im Jahr 1976 viel umjubelte Debüts in Washington und London. Im gleichen Jahr nahm er einen Lehrauftrag an der Hamburger Musikhochschule an und wurde Deutschlands jüngster Professor.
So ein mit großen Herausforderungen erfülltes Leben auf höchstem künstlerischen Niveau ist natürlich sehr beeindruckend, und man fragt sich, wie man eine solche Mehrfachbelastung schultert. Denn David Geringas macht ganz und gar nicht den Eindruck, als gehe er irgendetwas halbherzig an. „Eigentlich führt er drei Leben in einem“, sagt seine Frau schmunzelnd. „Als konzertierender Künstler, engagierter Lehrer und Familienvater.“
Als konzertierender Künstler ist er unermüdlich weltweit im Einsatz und verfügt über ein enormes Repertoire, was natürlich auch bei einem so erfahrenen Virtuosen immer noch viele Übe-Stunden am Tag erfordert. „Es gibt nur zwei Wege. Entweder man wird besser, oder man wird schlechter“, erklärt er. Man darf also nie nachlassen, ganz gleich, wie gut man ist. „Der Vollkommenheit sind keine Grenzen gesetzt.“
Dazu passt die intensive Vorbereitung, mit der er ein neues Werk angeht, wobei es ihm vor allem auf das genaue Verständnis der Klangwelt eines Komponisten ankommt. „Jeder Komponist ist wie eine neue Sprache.“ Wenn man sie einmal spreche, falle die Erarbeitung eines neuen Stückes recht leicht. Das gilt vor allem für moderne Komponisten, mit denen Geringas direkt über ihre Klangwelt sprechen kann.
Ein großer Schwerpunkt liegt bei dem gebürtigen Litauer in der Förderung der baltischen Musik. Engagiert setzt er sich mit Konzerten, CD-Einspielungen und Kompositionsaufträgen für die Komponisten seiner Heimat ein, was ihm sogar den Litauischen Nationalpreis für Kunst und Kultur eingebracht hat.
Als Lehrer war er nach seinem Hamburger Engagement 20 Jahre lang in Lübeck tätig und ist vor vier Jahren an die Berliner Musikhochschule Hanns Eisler berufen worden. Mit Nachdruck tritt er für eine gute musikalische Ausbildung ein. „Das ist das Allerwichtigste.“ Und zwar nicht nur an den Hochschulen, sondern schon viel früher bei den Kindern.
An dieser Stelle wird seine Herkunft wieder deutlich spürbar, denn er selbst hat in dem sowjetischen Auslese-System eine fantastische Ausbildung genossen. Mit sechs Jahren kam er an eine Zentral-Musikschule in Vilnius und wurde von Kindesbeinen an von hervorragenden Hochschul-Dozenten unterrichtet. „Wer da die achte Klasse überstanden hat, wurde auch Profi-Musiker.“ Heute sei es eine traurige Vergeudung, wie sehr die Kinder in Deutschland unterfordert werden. Kein Wunder, dass sie sich langweilen.
Und als Familienvater ist er – das bestätigt seine Frau – sehr fürsorglich und liebend. „Er ist immer bei uns, auch wenn er auf Reisen ist“, sagt sie. Die Familie ist es wohl auch, die ihn als Mensch so herrlich normal bleiben und nie abheben ließ. Er scheint bei allen Erfolgen und trotz der Hektik, des Drucks und des Arbeitsaufwandes, den der Konzertbetrieb mit sich bringt, nie den Grund verloren zu haben. Hamburg war stets der feste Lebensmittelpunkt, wo auch der Sohn aufwuchs und als inzwischen 33-Jähriger als Schauspieler tätig ist.
Mit seiner Frau Tatjana als Klavier-Begleiterin hat er auch beruflich eine starke Stütze. Sie ist es auch, die das Gespräch mit dem Satz „Wir müssen jetzt üben“ kurz und bündig beendet. David Geringas springt sofort auf, schließlich ist er nicht zum Spaß in Iserlohn. Zwei Konzerte plus Meisterkurs warten.