Johann Sebastian Bachs sechs Suiten für Cello muss jeder Virtuose des Instrumentes beherrschen. David Geringas reichte das alleine nicht: Er stellte jedem der Barockstücke eines aus dem 20. Jahrhundert gegenüber. Dabei ergibt sich eine erstaunliche Harmonie.
Erst wollte – und konnte – sie kaum jemand spielen: Die sechs Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach (1685-1750) waren als großformatige Etüden für Virtuosen verschrien, anspruchsvoll und vertrackt. Sie sind vergleichbar mit den Partiten für Solovioline, die jeden Geiger herausfordern und stets als Meisterprüfung der Virtuosen gelten – technisch und gestalterisch. Die Suiten entstanden zirka 1720 und werden von Nummer eins bis Nummer sechs immer anspruchsvoller werden. Offenbar muteten sie durch ihre Formstrenge und technische Dynamik zu Lebzeiten Bachs und lange danach immer als ein wenig zu akademisch an.
Dabei sind es eigentlich Tanzstücke, oft temporeich und melodienselig. Aber um diese gediegene Kammermusik als Interpret zu vollenden, muss es eben leicht und scheinbar mühelos klingen. Eine Sache für Könner. Wie man die sechs Meisterstücke frisch und behände interpretiert, zeigte jetzt der Cellist David Geringas in seiner Neuaufnahme: Ihm gelang es sogar, den Bach noch ein wenig zu verbessern, denn er platzierte klug ausgewählte Solostücke für Cello von Komponisten des 20. Jahrhunderts zwischen den Suiten – auf den ersten Blick etwas eigenwillig, aber dennoch verblüffend schlüssig.
Die Komponisten dieser hübschen Kleinigkeiten sind bekannt: Ob Sofia Gubaidulina, Ernst Krenek oder John Corigliano, sie alle schrieben Musik, die aus Bach schöpft. Und mit diesen Stücken, manchmal weniger als zwei Minuten lang, schlägt Geringas charmant eine Brücke zum Barock, die den Spaß unterstreicht, den er an diesem neuen Bach-Projekt hatte. Natürlich ist jede Interpretation dieser Suiten auch eine Verbeugung vor dem großen Vorbild aller Cellisten: Pablo Casals. Ihm verdankt man die Wiederentdeckung der einst verschollenen Stücke, die erstmalige komplette Aufführung der Suiten (1950), und Casals’ Schallplatten-Aufnahmen setzten den Maßstab für alle folgenden Interpreten. Teile des Zyklus, wie das Präludium der ersten Suite in G-Dur, wurden fast volkstümlich.
David Geringas zählt zu den bedeutendsten Cellovirtuosen der Gegenwart. Und trotz seiner immerhin schon 65 Lebensjahre klingt er keineswegs betulich: Seine Tempi sind meist atemberaubend flott. Jüngere Kollegen greifen da anders zu: Der hochvirtuose, eigenwillige Gavriel Lipkind (1977 in Tel Aviv geboren) etwa wirkt demgegenüber beinahe wie ein strenger Guru. Lipkinds trockene, gemessene Aufnahme von 2006 klingt gravitätisch, sonor und lupenrein – das Tänzerische war für Lipkind nicht das Hauptthema.
Geringas’ verzichtet auf das bedeutungsschwangere und unangemessene Vibrato, seine Ton klingt sehnig und warm, federnd und pointiert, als hätte er die Stücke eben erst für sich entdeckt (natürlich hat er die Suiten schon zuvor aufgenommen, zum Beispiel 1995). Er haucht den Gavotten und Gigues, den Sarabanden und Allemanden pulsierendes Leben ein und erinnert in seiner forschen Eleganz an einen Balletttänzer: sportive Sprünge, sichere Landung – und alles mit einem Lächeln.
Geringas wurde in Litauern geboren und hat sein Rüstzeug als Meisterschüler des Ausnahme-Cellisten Mstislav Rostropowitsch zwischen 1963 und 1973 am Moskauer Konservatorium erworben. 1970 gewann er mit Bravour den Tschaikowsky-Wettbewerb. Seither gehört er zu den vielseitigsten Musikern auf seinem Instrument, hat sich neben der klassischen Konzert-Literatur auch stets der Avantgarde gewidmet, er machte sich darüber hinaus einen Namen als Dirigent und komponierte auch. Ein “Zwischenspiel” auf seiner neuen CD (“Sandigloria”, eine hingetupfte Klangminiatur) stammt aus seiner Feder. Mit anderen Komponisten dieser Zwischenspiele, wie Sofia Gubaidulina oder seinem litauischen Landsmann Anatolijus Senderovas ist David Geringas seit langem befreundet, ihm widmeten diese Komponisten bereits größerer Werke.
Sie alle schätzen Geringas’ konzeptionelle Offenheit, die ihn auch zum idealen Interpreten der vermeintlich bestens bekannten Suiten machen. Natürlich erscheint es vermessen, Bach zu verbessern – aber ihn ein wenig neu zu beleuchten, das ist David Geringas auf jeden Fall gelungen.